Der „Barackenlager“-Diskurs der frühen 1990er-Jahre

„Leben zwischen Müll und Ratten, Vergessen und Hoffen“

Südtirol war bis in die 1970er-Jahre ein reines Auswanderungsland, vor allem aus ökonomischen Gründen, aber auch aus politischen. Erst mit der Verbesserung der wirtschaftlichen Konjunktur und der Stabilisierung des Arbeitsmarktes kam es in den 1990er-Jahren zu einer Intensivierung der Einwanderung, motiviert durch soziale Sicherheit und Arbeit.

Die fortlaufende Zunahme an Migrant_innen machte sich insbesondere in der Provinzhauptstadt Bozen bemerkbar – eine Stadt, die auf die Intensivierung der Zuwanderung jedoch nicht vorbereitet war. Aber nicht fehlende Arbeit, sondern ein Mangel an Wohnungen bereiteten der Stadt in der frühen Phase der Einwanderung die größten Probleme. Extreme Wohnungsknappheit, mangelnde Eingliederung in den Wohnungsmarkt und die defensive Haltung der Südtiroler Landesregierung förderten die Bildung bzw. Ausdehnung sogenannter illegaler „Barackensiedlungen“: An der Rombrücke, an der Drususbrücke, in der Mayr-Nusser Straße, um nur die wichtigsten zu nennen. Die Lebensumstände in den Siedlungen waren prekär, denn die Bewohner_innen lebten in selbstgebauten Baracken, in Wohnwägen oder zur Not in Autos. Sie hatten weder sanitäre Anlagen, noch Wasser oder Heizung zur Verfügung.

img_20150219_101727515_hdrFoto:Stadtarchiv Bozen
img_20150219_101657786Foto:Stadtarchiv Bozen
img_20150219_101337349Foto:Stadtarchiv Bozen

Aufmerksamkeit erlangten die provisorischen Siedlungen in Bozen durch die mangelnden hygienischen Zustände und die dazugehörigen Säuberungs- und Räumungsmaßnahmen der Stadt Bozen. Zudem kam es immer wieder zu Auseinandersetzungen in den Siedlungen, wo Menschen auf engstem Raum zusammenlebten. In Bozen wurde zunächst eine Politik des „Wegschauens“ verfolgt und die Menschen ihrem eigenen Schicksal überlassen, mit der Hoffnung, die Siedlungen würden sich durch die Kälte des Winters von alleine auflösen. Diese Hoffnung wurde nicht erfüllt und somit entwickelte sich 1991 und 1992 die Frage um eine humanere Unterbringung der Siedlungsbewohner_innen zu einer der größten politischen Fragen der Zeit. Die Gemeinde Bozen zeigte sich zunächst noch alternativlos und restriktiv: Es gäbe weder die finanziellen Mittel noch den Baugrund, so der damalige Bozner Bürgermeister Marcello zur Räumung der Lager. Als 1992 die Frage der Unterbringung immer noch nicht gelöst werden konnte, hatte sich der politische Diskurs  gewandelt: Unterkünfte sollen geschaffen werden, doch nur für Migrant_innen mit Arbeit und Aufenthaltsgenehmigung, alle anderen sollten das Land verlassen. 1993 wurde schließlich der Bau einer Fertigbausiedlung am Pasquali-Hügel in Bozen mit Hilfe der Caritas realisiert.

Der „Barackenlager“-Diskurs in den Tageszeitungen – eine Analyse

Für die Untersuchung von Argumentationsmuster/Denkmuster im „Barackenlager-Diskurs“ wurden alle Berichterstattungen und Leserbriefe der Südtiroler Tageszeitungen „Dolomiten“ und „Alto Adige“ von 1990 – 1993 untersucht, die die illegal entstandenen Barackensiedlungen thematisierten. Es handelt sich dabei um insgesamt 368 Artikel der „Alto Adige“ und 170 Artikel der „Dolomiten“. Für die Argumentationsanalyse wurden anschließend jene Artikel herangezogen, in denen auch tatsächlich argumentiert wurde: 157 Artikel der „Alto Adige“ und 58 Artikel der „Dolomiten“. Das Kreisdiagramm zeigt die Verteilung der vorgekommenen Argumentationsmuster. Durch Klicken auf die einzelnen Flächen erscheinen im Infokasten jeweils drei Beispiele zu jedem Argumentationsmuster. Durch das Klicken auf die die Felder „Alto Adige“, „Dolomiten“ oder „Gesamtansicht“ werden die Diagramme der jeweiligen Tageszeitung oder eben beide Grafiken nebeneinander angezeigt.

Forschungsergebnisse

Die überwiegende Wahrnehmung von Zugewanderten als Belastung aufgrund mangelnder Kapazitäten oder fehlender Hygiene schaffte in der Südtiroler Bevölkerung eine Atmosphäre der Ablehnung und Distanzierung. Hinzu kam die Stigmatisierung der Migrant_innen als Kriminelle und die Präsentation der Einwanderer als Gefahr (mögliche Ausbrüche von Epidemien). Mit dem Argumentationsmuster des wirtschaftlichen Nutzens von Migrant_innen wurde zwar einer generellen Ablehnung von Migrant_innen entgegengesteuert, gleichzeitig aber wurden die Eingewanderten auf ihre Leistungsfähigkeit reduziert und als bloße „Arbeitskräfte“ gesehen.
Durch den Vergleich der Tageszeitungen kann gezeigt werden, dass die „Stimmung“ in den jeweiligen Subgesellschaften, d. h. in der deutsch- bzw. italienischsprachigen Gesellschaft unterschiedliche Tendenzen aufwies. Denn die Topoi wurden von den jeweiligen Sprachgruppen unterschiedlich häufig und in verschiedenen Zusammenhängen verwendet. Es kann von Argumentationsmustern gesprochen werden, die signifikant für die jeweilige deutsch- bzw. italienischsprachige Gruppe sind. Dazu gehören das Argumentationsmuster „Das Barackenlager als Gefahr“, das den Diskurs auf der italienischsprachigen Seite dominierte und das Argumentationsmuster des wirtschaftlichen Nutzens bzw. Schadens, das von der deutschsprachigen Gruppe besonders häufig verwendet wurde. Die mediale Panikmache der „Alto Adige“ und die Reduzierung der Migrant_innen auf deren Leistungsfähigkeit in der „Dolomiten“ hatten somit maßgebende Bedeutung für die jeweilige Sprachgruppe bei der Rechtfertigung politischer Maßnahmen. Die Angst der deutschsprachigen Bevölkerung vor dem „neuen Fremden“ (Migrant_innen) führte allerdings nur in einzelnen Fällen auch zu einer Annäherung zum bereits „bekannten Fremden“ (italienischsprachige Bevölkerung). Von einem übergreifenden „Wir-Gefühl“ kann nicht die Rede sein.