Die Flüchtlingspolitik in Südtirol unterscheidet sich seit 2014 in einzelnen Punkten deutlich von jener der vorherigen Jahre. Dies ist – so kann vermutet werden – auf einen Wechsel der politischen Spitze im Land zurückzuführen: Im Jahr 2014 trat Arno Kompatscher, ebenfalls Mitglied der Südtiroler Volkspartei, die Nachfolge des langjährigen Landeshauptmannes Luis Durnwalder an. Zwar hielt die Volkspartei an ihrer grundsätzlichen Haltung, Unterstützung und Hilfsmaßnahmen in Krisengebieten zu leisten, fest, dennoch zeigte sie sich hinsichtlich der Aufnahme von Asylwerbenden weniger defensiv. So verteidigte Kompatscher beispielsweise die Verteilung von Schutzsuchenden in ganz Italien als notwendige, faire und solidarische Maßnahme:
„Unsere Quote beträgt 0,9 Prozent. […] Das beruht auf einem Prinzip der Fairness und der Solidarität untereinander.“
(Wortprotokoll der Sitzung Nr. 82 des Südtiroler Landtags vom 19.10.2015)
Die nun etwas offenere Haltung der SVP gegenüber den staatlichen Zuweisungen der Geflüchteten änderte jedoch wenig daran, dass jene Menschen, die außerhalb dieser Quote in Südtirol Schutz suchten, nicht in den staatlichen Flüchtlingseinrichtungen untergebracht wurden und sich wenig Unterstützung durch das Land erwarten konnten. Diese Gruppe von Einwandernden, auch als „Menschen außerhalb der Quote“ bezeichnet, wurden nicht ohne Absicht von Beginn an ihrem Schicksal überlassen, wie die SVP-Abgeordnete Martha Stocker erklärte:
„Problematisch ist besonders die Schaffung von Unterbringungsangeboten für diese Personen, da dadurch […] erfahrungsgemäß Anziehungseffekte entstehen […] . Dies ist der Grund, warum das Land Südtirol in der Schaffung von Aufnahmeangeboten für diese Personen immer sehr zurückhaltend war.“
(Pressemitteilung vom 5.09.2016)
Um auch weiterhin keine allzu große Verantwortung übernehmen zu müssen und eine Sogwirkung zu verhindern, forderte Landeshauptmann Kompatscher daher, Menschen, die zwar außerhalb besagter Quote, aber auf ebenso gefährlichem Wege nach Südtirol gelangt waren, ebenfalls im staatlichen Asylsystem zu berücksichtigen. Begründet wurde diese Forderung mit der Aussage, Südtirol sei „aufgrund seiner besonderen geografischen Lage deutlich stärker als andere Länder mit der Situation konfrontiert“. Dabei hielt sich die Zahl der in Südtirol offiziell aufgenommen Flüchtlinge in Grenzen: Von den im Jahr 2015 insgesamt 1.152 Asylantragsstellenden hatte rund die Hälfte davon die 14 Aufnahmeeinrichtungen der Provinz wieder verlassen. Zum Vergleich: In Nordtirol wurden im selben Jahr mehr als 4.500 Flüchtlinge untergebracht.
Es darf nicht außer Acht gelassen werden, dass Südtirol hauptsächlich ein Durchzugsgebiet für viele Geflüchtete war und nach wie vor zu sein scheint. 40 bis 60 Prozent der Schutzsuchenden in Italien stellen aus diesem Grund keinen Asylantrag auf italienischem Staatsgebiet, sondern reisen unmittelbar nach ihrer Ankunft in Südtirol weiter in Richtung Norden. Der durch die Politik kommunizierten Überbelastung durch die Zuwanderung fehlt somit jegliche ernstzunehmende Grundlage.
Paradoxerweise etablierte sich Solidarität zu einem bedeutenden Themenaspekt, der sich nicht nur auf Flüchtlinge, sondern auch auf die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union bezog. Es sei eine „europäische Solidarität“ anzustreben, wodurch nationale Egoismen überwunden und eine gemeinsame Lösung in der Flüchtlingsfrage erarbeitet werden solle, so Landeshauptmann Kompatscher. Eigene, regionale Interessen gingen dabei natürlich einher, immerhin würden nationale Entscheidungen, wie etwa die Schließung von Grenzen, auch negative Konsequenzen für die Provinz Bozen nach sich ziehen.
In jüngster Zeit wurden der Bahnhof am Brenner, aber auch jener in der Landeshauptstadt Bozen, zu wichtigen Zwischenstationen auf dem Fluchtweg in den Norden Europas. Doch insbesondere am Brennerpass befanden sich keinerlei Einrichtungen für die zahlreichen Geflüchteten, die in Zügen oder auf anderem Wege versuchten, die italienisch-österreichische Grenze zu passieren. Die Situation auf dem 1.300 m hoch gelegenen Grenzübergang erwies sich als dermaßen prekär, dass Abgeordnete der Grünen bereits im Oktober 2014 die „Errichtung einer Notunterkunft für Flüchtlinge am Brenner“ (Beschlussantrag Nr. 3 bzgl. Landesgesetzentwurf Nr. 19/14-XV) gefordert hatten. Der Brennerpass entwickelte sich zunehmend zu einem viel diskutierten „hotspot“– so forderte beispielsweise Österreich – allen voran das Bundesland Tirol– die Schließung der Brennergrenze. Die Reaktionen darauf fielen in Südtirol entsprechend negativ aus und Landeshauptmann Kompatscher erklärte:
„Nach den zwei Weltkriegen ist der Brenner für uns heute das Symbol für die Überwindung der Nationalismen, der europäischen Zusammenarbeit und des Grenzabbaus. Im Gespräch mit Minister Gentiloni waren wir uns einig, dass angesichts der derzeit ruhigen Lage keine Notwendigkeit für irgendwelche Sondermaßnahmen am Brenner besteht. Wenn es gelingt, dass die europäischen Staaten zusammenarbeiten, können die Kontrollen innerhalb Europas wieder fallen.“
(Pressemitteilung vom 6.05.2016)
Zwar waren sich die verschiedenen Parteien in Südtirol in Bezug auf die Themen Brennergrenze und europäische Zusammenarbeit einig, die vorgeschlagenen Lösungen zur Bekämpfung der Krise „an der Wurzel“ unterschieden sich jedoch deutlich voneinander: Während Brigitte Foppa, Abgeordnete der Grünen, die europäische Wirtschaftspolitik sowie die europäischen Waffenhandelsrouten als Ursache des Problems sah, schlugen Abgeordnete der Freiheitlichen-Partei eine Politik der Abschreckung vor. Diese sollten sich beispielsweise durch mehr abgewiesene Asylanträge, schnellere Abschiebungen von Personen ohne Papiere, stärkere Verpflichtung der Herkunftsländer bei der Bekämpfung von Armut oder raschere Rückführungen äußern. Vertreter der SVP hingegen blieben ihrer Parteilinie treu und vertraten den Grundsatz, „die Probleme dort anzupacken, wo die Probleme entstehen“. Dies sollte mittels humanitärer Unterstützung in den Herkunftsländern der Geflüchteten erfolgen.
Ein weiteres, von den Freiheitlichen zur Sprache gebrachtes Thema bildete die Einführung einer „Obergrenze für Asylwerber“ (Begehrensantrag Nr. 47/15 vom 16. September 2015). Begründet wurde diese Forderung unter anderem mit dem Argument, unbegrenzte Zuwanderung gefährde den Lebensstandard sowie das soziale Gefüge innerhalb der Europäischen Union. Dass eine derartige – durchaus menschenfeindliche – Argumentation im Südtiroler Landtag auf wenig fruchtbaren Boden fiel, zeigte die mit großer Mehrheit beschlossene Ablehnung des Antrags, welcher Landeshauptmann Kompatscher hinzufügte:
„Ich denke schon, dass allen, die sich ein bisschen mit der Thematik befasst haben, klar sein dürfte, dass so etwas nicht funktionieren kann, wenn wir im Landtag ganz einfach sagen, dass wir jetzt eine Obergrenze festlegen. Wer sich die Genfer Flüchtlingskonvention […] angeschaut hat, weiß, dass das diesen Konventionen […] widerspricht.“
(Wortprotokoll der Sitzung Nr. 82 des Südtiroler Landtags vom 19.10.2015)
Auf lokaler, ebenso wie auf nationaler und europäischer Ebene finden mehr denn je Verhandlungen und Diskussionen über die Herausforderungen der bis heute anhaltenden Flüchtlingsströme statt. Die Frage, in welche Richtung sich der politische Diskurs im Laufe der kommenden Jahre hin bewegen wird, bleibt offen.